Formgedächtnistechnik - Grundlagen

Es gibt zahlreiche aktive Werkstoffe mit unterschiedlichsten Wirkmechanismen. Wir beschäftigen uns vorrangig mit magnetischen und thermischen Formgedächtnislegierungen sowie Formgedächtnisstählen.

Allen aktiven Werkstoffen gemein ist die inhärente Sensor- und Aktorfunktion in einem Werkstoff. Dies qualifiziert diese Werkstoffgruppe sowohl für sensorische als auch aktorische Aufgaben und ermöglicht einen neuen Integrationsgrad sowie eine extreme Funktionsverdichtung. Herkömmliche Konstruktionswerkstoffe wie Stahl, Aluminium oder Faserkunststoffverbunde werden durch Applikation oder Integration aktiver Werkstoffe intelligenter und können als Gesamtkomponente leichter und damit gewichts- und ressourcenschonender dargestellt werden.

Thermische Formgedächtnislegierungen

Thermische Formgedächtnislegierungen (FGL) sind thermosensitive Werkstoffe, die ihre Geometrie in Abhängigkeit vom Erreichen definierter Temperaturen verändern und in bestimmten Temperaturbereichen elastische Eigenschaften aufweisen. Der sogenannte Formgedächtniseffekt ist bereits seit den 1930er Jahren bekannt, als der schwedische Chemiker Arne Ölander diesen an Gold-Cadmium-Legierungen nachweisen konnte. Produkte, die sich den Effekt gezielt zunutze machen, fanden jedoch erst in den letzten Jahrzehnten Zugang in den Markt. Zu den Materialien mit Formgedächtniseffekt gehören vor allem Legierungen, also Kombinationen aus zwei oder mehreren Metallen. Besonders bekannt sind Nickel-Titan-Legierungen, die oft als Nitinol bezeichnet werden. Dieser Name leitet sich von den beiden Metallen sowie dem US Naval Ordnance Laboratory, dem Ort wo die Eigenschaften dieser Legierung entdeckt wurden, ab.

Bei der Entwicklung von Anwendungen auf Basis von FGL gingen in der Vergangenheit Werkstoff- und Anwendungsentwicklung immer Hand in Hand. Sowohl die Verbesserung der Werkstoffeigenschaften als auch das bessere Verständnis entscheidender Design-Aspekte führten zu neuen Anwendungen. In der Gruppe der Smart Materials haben FGL neben Piezokeramiken den höchsten Reifegrad. Am Markt existieren, mitunter bereits seit Jahrzehnten etablierte Anwendungen, welche die besonderen Eigenschaften von FGL konsequent ausnutzen. Beispiele hierfür sind FGL-Feder Anwendungen in Fluidkreisläufen und Thermostaten (Stückzahl > 5 Mio. pro Jahr), Pneumatikventile für Sitzkomfortsysteme (Stückzahl > 10 Mio. pro Jahr) und Autofokus- bzw. Bildstabilisierungssysteme in Smartphone-Kameras (Stückzahl > 40 Mio. pro Jahr).

Am IWU wird seit mehr als 15 Jahren im Bereich FGL geforscht. Der Fokus liegt hierbei neben grundlegenden Fragestellungen zur Werkstofftechnik, der Auslegung und der Simulation insbesondere im Bereich Produktionstechnik. Hierdurch kann garantiert werden, dass im Rahmen von Entwicklungen stets die gesamte Wertschöpfungskette, vom FGL-Halbzeug bis zum in Serie gefertigtem Produkt berücksichtigt wird und damit Risiken minimiert werden.  

Magnetische Formgedächtnislegierungen

Die Entwicklung magnetischer Formgedächtnislegierungen (MFGL bzw. engl. MSM) erfolgt erst seit Mitte der 1990iger Jahre. Herausragende Eigenschaften der MFGL sind die magnetfeldinduzierten Dehnungen, die bei einkristallinem Ni-Mn-Ga-Probenmaterial mehr als 10 % betragen können. Der wesentliche Unterschied gegenüber thermischen FGL besteht darin, dass der magnetische Formgedächtniseffekt nicht durch einen Temperatureinfluss, sondern durch das Anlegen eines magnetischen Feldes in der Niedertemperaturphase Martensit hervorgerufen werden kann, wodurch eine wesentlich höhere Wiederholrate bei den Arbeitsvorgängen möglich wird. Über die Variation der magnetischen Feldstärke kann eine Steuerung des Prozesses erfolgen und in zahlreichen Aktorik- bzw. Sensorikanwendungen in verschiedenen industriellen Bereichen wie für Greifer in der Robotik, in der Fluidtechnik (Pumpen, Ventile) und für Geräte zur Schwingungserzeugung und -dämpfung (Werkzeuge, Schallmessgeräte) zum Einsatz kommen.

Das Fraunhofer IWU arbeitet bereits viele Jahre auf dem Gebiet der MSM-Werkstoffe und deren Charakterisierung. Das Know-how zur Charakterisierung wurde zu großen Teilen im Rahmen von BMBF-Projekten – auch im smart³-Konsortium mit dem Fraunhofer IWU als Konsortialführer – gewonnen. Dabei erfolgten zahlreiche Untersuchungen zum Schneid- und Abtragsverhalten sowie Versuche zur Herstellung von Nebenformelementen an Aktorsticks für Befestigungsmöglichkeiten, die für Aktorapplikationen relevant sind.

Formgedächtnisstähle

Formgedächtnisstähle (FGS) umfassen eine relativ junge Werkstoffgruppe eisenbasierter Legierungen mit Formgedächtniseigenschaften. Der Effekt basiert auf anderen werkstofflichen Mechanismen als bei thermischen FGL, wodurch sich auch andere Anwendungsbereiche ergeben. FGS eignen sich besonders für Anwendungen, bei denen der Materialpreis eine entscheidende Rolle spielt, beispielsweise im Bauwesen oder bei massenproduzierten Verbindungselementen. Hingegen sind sie weniger geeignet für typische FGL-Anwendungen wie in der Medizin oder der Mikro- und Kleinaktorik, was ihre geringe Verbreitung erklärt.

Das Fraunhofer IWU forscht sowohl an den werkstofftechnischen Grundlagen von Formgedächtnisstählen als auch an ihrer Anwendung. Als Beispiel wurde die Nutzung von FGS für intelligente Verbindungselemente im Bauwesen untersucht, um deren Potenzial zur sichereren, nachhaltigeren und wirtschaftlicheren Gestaltung des Montageprozesses zu bewerten. Konkret konzentrierten sich die Arbeiten auf ein smartes Verbindungselement für Fassadenelemente aus innovativem Carbon-Beton. Die Ergebnisse zeigen, das mit FGS auch Verbindungen für große und schwere Bauteile, wie z.B. Fassadenelemente möglich sind. Eine Besonderheit ist die Möglichkeit der Blindmontage ohne mechanischen Zugang zur Verbindung, z.B. mit einem Schraubenschlüssel o.ä., wobei die Verbindung remote geschlossen wird durch Aktivierung der FGS per Knopfdruck.

Aktuelle Forschungsfragen beschäftigen sich anwendungsübergreifend mit innovativen Verbindungselementen für die Kreislaufwirtschaft. Hier bieten Verbindungselemente auf FGS-Basis das Potential, die Montage und insbesondere die zerstörungsfreie Demontage einfacher und wirtschaftlicher zu gestalten und damit Reuse und Recycling in einem großen Umfang zu ermöglichen.